Berlin, Sonntag 1. Oktober
PREISTRÄGER DES LETTRE ULYSSES AWARD FÜR DIE KUNST DER REPORTRAGE 2006 BEKANNTGEGEBEN
Die internationale Jury des Lettre Ulysses Award, des einzigen Weltpreises für literarische Reportage, hat am Abend des 30. September 2006 im Berliner TIPI Zelt in Anwesenheit aller sieben Finalisten und der internationalen Jury aus hochkarätigen Reportageautoren und von mehr als 500 internationalen Gästen aus Kunst und Kultur, Medien, Politik und Diplomatie die diesjährigen Preisträger bekannt gegeben.
Die Preise erhielten:
Der mit 50.000 USD und mit einer Trophäe des Berliner Künstlers Jakob Mattner dotierte 1. Preis wurde verliehen an:
LINDA GRANT, Großbritannien: The People on the Street. A Writer’s View of Israel, Virago Press, London, 2006. Die britische Journalistin und Autorin Linda Grant, eine nicht-religiöse Diaspora-Jüdin, reist im Jahre 2003 nach Tel Aviv. Ihr Besuch wird zum Anlaß einer gründlichen Sondierung jüdischer Identität und deren Beziehung zum Staat Israel. Ihr Buch ist die Reise in eine einzigartige und problematische Gesellschaft, in die Sprache und Biographien ihrer Bewohner, ihre Archetypen und Geschichten, ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung. Beobachtungen aus einem aufgewühlten Land, das entschlossen ist, seine Existenz zu verteidigen und das in einen Konflikt verstrickt ist, der eher tragische Konsequenzen als friedliche Perspektiven verspricht.
Den 2. Preis (30.000 USD) erhielt
ERIK ORSENNA, Frankreich: Voyage aux pays du coton. Petit précis de mondialisation, Fayard, Paris, 2006 [Journey to the Lands of Cotton. A Brief Manual of Globalisation] Auf seiner Reise ins Land der Baumwolle besucht der französische Schriftsteller Erik Orsenna Plantagen in Mali und den Vereinigten Staaten, Forschungslabors und Farmen in Brasilien und Museen in Ägypten, ausgetrocknete Seen in Usbekistan, Textilfabriken in China und Frankreich. Baumwolle ist ein Rohstoff, der die Geschichte ganzer Länder geprägt hat und von dem Millionen von Menschen bis heute leben und abhängig sind. Das Buch bringt die Mechanismen der Globalisierung zur Sprache, den Kampf um Marktanteile, das Streben nach neuen Produkten, den Konflikt zwischen multinationalen Konzernen und traditionaler Ökonomie, die Rhetorik von offenen Märkten und der weltweiten Praxis des Lobbyismus.
Der 3. Preis (20.000 USD) ging an
JUANITA LEÓN, Kolumbien: País de plomo. Crónicas de guerra, Aguilar, 2005 [Country of Bullets. War Diaries]. Seit 1948 ist Kolumbien zerrissen von Gewalt und Bürgerkrieg. Gegen die konservative Oligarchie und die Militärführung entstand die Guerillabewegung der „Liberalen“ und eine von der kommunistischen Partei unterstützte Selbstverteidigungsorganisation der Bauern. Später traten die Drogenkartelle und Paramilitärs auf die Bühne. Der Konflikt forderte hunderttausende von Opfern. In ihrem 2005 erschienenen Buch Land des Bleis, Kriegstagebücher beschreibt die kolumbianische Journalistin Juanita León alle wesentlichen Facetten des Dramas: das Leiden der Landbevölkerung, das Wüten der Todesschwadronen, die Unfähigkeit der Regierung, die Rolle der Drogenökonomie und der zunehmende Verlust der Humanität. Beobachtungen und Begegnungen in einem Vielfrontenkrieg.
Die weiteren Finalisten erhielten Preise in Form von Aufenthalten in Berlin (gestiftet vom Goethe-Institut) und hochwertige, handgefertigte Uhren der Firma Nomos.
Es sind:
KARL-MARKUS GAUß, Österreich: Die Hundeesser von Svinia, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2004. Die Slowakei ist eines der jüngsten Mitglieder der Europäischen Union und gilt mit ihren niedrigen Löhnen und Steuern als wahres Investitionsparadies. Dort leben auch 800.000 Roma. Gauß berichtet in Die Hundeesser von Svinia von seinen 2001 bis 2003 unternommenen Reisen in den Osten des Landes. Dort taucht er ein in das Leben der Roma, die mit ihrer Geschichte der Umsiedlung, Verfolgung und Missachtung heute zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen Europas gehören. Von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert, leben sie in etwa 300 Stadtrandghettos und ländlichen Siedlungen. Ihr Alltag ist geprägt von Identitätsverlust, Elend und Orientierungslosigkeit. Der Slum von Svinia ist ein Ort, wie aus der Welt und Zeit gefallen. In dieser Vorhölle leben die „Hundeesser“, die niedrigste Kaste, die Parias der Roma.
LI DATONG, China: 'Bingdian’ Gushi, Guangxi Shifan Daxue Chubanshe, 2005 [The Story of `Freezing Point’, Guangxi Normal University Press, 2005] Im Januar 2006 schockierte die Nachricht von der Schließung der Zeitschrift Freezing Point Weekly die politisch-kulturelle Öffentlichkeit Chinas. Damit machte die chinesische Regierung einem Hoffnungszeichen für Meinungsfreiheit, den Garaus. Freezing Point war die Wochenbeilage des Zentralorgans der kommunistischen Jugendliga, geleitet von dem Journalisten Li Datong. Dieser hatte nach dem Tiananmen-Massaker 1989 fünf Jahre Arbeitsverbot erhalten, konnte aber in einer Periode der Kommerzialisierung und Liberalisierung 1995 Leiter dieses Magazins werden. Mutige und menschennahe Reportagen zeigten damit das Bild einer Gesellschaft, in der Gesetzlosigkeit, Korruption, Ausbeutung und die Propaganda kontrollierter Massenmedien den Ton angeben. Als zunehmend beliebteste Publikation Chinas wurde Freezing Point für die Regierung immer unbequemer. Li Datong erzählt die Geschichte von Kampf, Aufstieg und Untergang der Zeitung.
MANJUSHREE THAPA, Nepal: Forget Kathmandu: An Elegy for Democracy, Penguin Viking India, Neu Delhi, 2005. Das Massaker und der Königsmord in Nepals Königshaus 2001 erschütterte die Legitimität der Herrscher. Die parlamentarische Demokratie wurde abgeschafft, demokratische Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt. Die Armut der Landbevölkerung wurde zum Nährboden einer maoistischen Guerilla, die heute ganze Regionen des Landes kontrolliert. Die Reportage von Manjushree Thapa führt durch byzantinische Herrschaftsstrukturen und in entfernte westliche Bergregionen des Himalaya-Landes, wo viele Dorf- und Landbewohner auf der Flucht vor der epidemischen Gewalt sind. Die patriarchalische Unterdrückung der Frauen in Gesellschaft und Familie sind ein Grund dafür, dass die Guerilla zum großen Teil von jungen Frauen getragen wird. Bei aller Zerstörung sieht die Autorin ein demokratisches Bewusstsein wachsen.
ZHOU QING, China: Min Yihe Shi Wei Tian. Zhongguo Shipin Anquan Xianzhuang Diaocha, Bangao Wenxue, 9/2004 [`What Kind of God’. A Survey of the Current Safety of China’s Food, in: Reportage Literature 9/2004] Der Reichtum ihrer Küche zeugt davon, wie sehr die viertausendjährige Geschichte Chinas verbunden ist mit der Geschichte des Essens. Im heutigen Land des „chinesischen ökonomischen Mythos“ mit seinen Wachstumsraten, Wolkenkratzern und Weltmarkterfolgen wird das Thema der Nahrungsmittel wieder extrem wichtig. Der Wunsch nach schnellem Reichtum führt auch im Reich der Speisen und Getränke zur moralischen Skrupellosigkeit. Zhou Qing interviewte Nahrungsmittelfabrikanten und Restaurantbetreiber, Fischzüchter, Bauern, Händler, Ärzte und Konsumenten. Antibabypillen beschleunigen die Fischzucht, DDT macht Pickles haltbarer, Hormone dienen als Nahrungsmittelzusätze, Salz wird chemikalisch angereichert, Industrieöl wird zu Speiseöl umgearbeitet. Ein Volk ist dabei, sich selbst zu vergiften.
Auszüge aus den nominierten Texten sind auf deutsch in der aktuellen Ausgabe von Lettre International, Nr. 74, publiziert.
Die Gewinner der Auszeichnung wurden am Samstag, 30.September, in Berlin im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung mit 500 internationalen Gästen aus Literatur, Kunst, Kultur, Medien, Politik und Diplomatie bekannt gegeben. Der südafrikanische Schriftsteller Breyten Breytenbach und die Sprecherin der Jury, Isabel Hilton, führten als Moderatoren durch den Abend.
Der jährlich vergebene Lettre Ulysses Award wurde 2003 von der Kulturzeitung Lettre International in Verbindung mit der Aventis Foundation ins Leben gerufen. Das Goethe-Institut ist Partner des Projekts.
Im Jahr 2006 wurden insgesamt 100.000 USD Preisgeld sowie Aufenthalte in Berlin und Sachpreise vergeben. Ziel des Preises ist es, herausragende Leistungen der literarischen Reportage und die Themen der ausgezeichneten Bücher in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit zu rücken und deren Autoren ideell, moralisch und materiell zu unterstützen.
Die Mitglieder der Jury 2006 repräsentieren mit ihren Muttersprachen zehn der größten Sprachregionen der Welt; gemeinsame Arbeitssprache war Englisch. Diese Zusammensetzung der Jury gewährleistet so ein größtmögliches Spektrum sprachlicher und kultureller Wahrnehmung.
Die Jurymitglieder 2006 waren: Gamal al-Ghitani (Ägypten), Andrej Bitow (Russland), Urvashi Butalia (Indien), Nedim Gürsel, (Türkei), Isabel Hilton (Großbritannien), Anne Nivat (Frankreich), Sergio Ramírez (Nicaragua), Pedro Rosa Mendes (Portugal), Ilija Trojanow (Deutschland), Yang Lian (China).
(Presse Erklärung auf Englisch)